Ulrike Ritter: Nur mal schnell was lesen …

Ulrike Ritter: Nur mal schnell was lesen …

Ulrike Ritter ist freie Lektorin – und leidenschaftlich bei der Sache. Von Salzburg aus betreut sie mit ihrer Firma textstern* Kunden in Österreich und Deutschland. Hier berichtet sie uns, was den Lektorenberuf so spannend macht, und teilt Gedanken über den Alltag zwischen Texten, Tippfehlern und Stilfragen.

Steuerberater, Ärzte, Anwälte, Physiotherapeuten. Das sind Berufsstände, von denen erwartet wird, dass sie jederzeit Freunden und Bekannten Auskunft in Fachfragen geben. Der einen tut das Knie weh, der andere hat Probleme mit der Steuererklärung. „Du, jetzt muss ich dich mal was fragen“, dürfte die wohl berüchtigtste Wendung in solchen Gesprächen sein. Die Befragten nehmen dann meist Reißaus …

Die Arbeit von Lektoren und Lektorinnen ist – soll man sagen: glücklicherweise? – nicht in diesem Maße im Alltag verankert wie bei Berufen, die unmittelbar mit Themen unserer Lebensrealität zu tun haben. Was man allerdings als Lektor häufig hört, ist die Bitte, „nur mal schnell“ etwas zu lesen. Hinter dieser Formulierung verbirgt sich die Vermutung, dass jemand, der täglich beruflich liest, das auch mit enormer Schnelligkeit tun muss. Quasi als Tätigkeit, die man so sehr verinnerlicht hat, dass sie ohne jede Aufmerksamkeit vor sich geht.

Sicher kann man einen Lektor bitten, einen Text zu überfliegen – mit Lektoratsarbeit hat das aber natürlich wenig zu tun (und kaum jemand wird dafür zahlen wollen). Ganz im Gegensatz zum Schnellleser-Image lässt sich (mit etwas Mut) die Behauptung aufstellen, dass Lektoren die wahrscheinlich langsamsten Leser sind. Vier, fünf, vielleicht auch sechs Seiten in der Stunde sind das maximale Pensum, das ich mir beim Lektorieren vornehmen kann. Wohlgemerkt meine ich damit Normseiten, die wesentlich weniger Text enthalten als eine „normal“ gefüllte A4-Seite. Es gibt allerdings auch Texte, bei denen sich in der Stunde drei, manchmal auch nur zwei Seiten erledigen lassen. Das bedeutet nicht, dass diese Texte mit Fehlern übersät sind – ganz im Gegenteil sogar. Entscheidend ist für mich hier die Frage nach der inhaltlichen Komplexität; nach dem Anspruch des Lektors, auch jenseits von Rechtschreibung und Grammatik einzugreifen und stilistische Optimierungsaufgaben zu übernehmen; nach dem Abstimmungsbedarf mit dem Autor; nach dem Rechercheaufwand; nach dem Wunsch, nicht nur Fehler zu korrigieren, sondern einen richtig schönen, richtig runden Text zu schaffen.

Klar: Die Dinge, die ich hier nenne, müssen nicht zwangsläufig zu den Aufgaben des Lektors gehören – zum Beispiel dann nicht, wenn sich der Auftraggeber ein schlichtes Korrektorat wünscht; auch dann nicht, wenn die Grenzen dessen, was der einzelne Lektor als seinen Aufgabenbereich ansieht, überschritten sind.

Was in meinen Augen bleibt, ist der Fakt, dass der Zeitaufwand beim Lesen der limitierende Faktor in der Arbeit von Lektoren ist. Hundert Seiten an einem Tag: Das klappt einfach nicht. Die erwartete Gründlichkeit beim Lektorieren verlangt Langsamkeit. Man muss sich als Lektor nur trauen, das nicht als Schwäche zu sehen.

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