Stefan Krücken: Das Fiasko von Flensburg

Stefan Krücken: Das Fiasko von FlensburgStefan Krücken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag (Fb). In seiner Kolumne “Unser kleiner Verlag” gibt er uns Einblicke hinter die Verlagskulissen.

Am Jahresausklang, wenn der Nebel über den platten niedersächsischen Pferdewiesen neben unserem kleinen Verlag wabert, wenn die Telefone nicht mehr klingeln und die letzten Pakete zur Post geschleppt sind, bleibt manchmal Zeit für Besinnliches. Heute rief die lit.cologne an, das Literaturfestival in Köln, an dem wir bald wieder mit einer großen Lesung auf dem Rhein teilnehmen dürfen (womit, verraten wir später), und das bot Gelegenheit, an unsere erste Lesung zurückzudenken. Mit einem Schmunzeln, denn retrospektiv kann man über vieles Schmunzeln. Unter uns hieß die Lesung: das Fiasko von Flensburg.

Der NDR hatte damals eingeladen, mit seiner Reihe „Der Norden liest“, Schifffahrtsmuseum an der Hafenkante, ein bekannter Moderator, Fernsehen vor Ort, Radio vor Ort, große Sache. Unser Buch „Orkanfahrt“, in dem fünfundzwanzig alte Kapitäne ihre besten Geschichten erzählen, war ein riesiger Erfolg und sogar vom „Spiegel“ gelobt worden. Wir freuten uns, waren aufgeregt und hockten unter einem alten Segelschiff im übervollen Saal.

Die Autoren von “Orkanfahrt”: Fotograf Achim Multhaupt (rechts) und Stefan Krücken: Stefan Krücken: Das Fiasko von Flensburg

Ankerherz-Ausflug zur ersten Lesung nach Flensburg: Kai Jerzö (Art Direction, Zürich), Julia Krücken, Achim Multhaupt, Stefan Krücken (von rechts): Stefan Krücken: Das Fiasko von Flensburg

Nun muss man wissen, dass alte Seeleute im Allgemeinen und alte Kapitäne im Speziellen besondere Männer sind. Sie reden ungern, sie reden wenig, sie sind bisweilen, sagen wir: etwas eigen. Nachdem ich ihnen die Geschichten fürs Buch entlockt hatte, war ich auch für ein Verhörtraining bei der CIA geeignet. Alle Texte waren von ihnen autorisiert worden, Wort für Wort. Drei sollten an diesem Abend ihre beste Geschichte vorlesen. Als erstes kam also Kapitän A auf die Bühne. Beifall, lobende Worte des Moderators, das Mikro wurde zurecht gerückt. Herzklopfen, es ging los.

„Ich möchte mal vorwegschicken, dass das gar nicht meine beste Geschichte ist. Ich lese nur unter Protest“, brummte der Seemann. „Ich hatte eine Sturmgeschichte, aber die wollte der Herr Krücken ja nicht hören.“

Raunen im Saal. Herzaussetzer. Hatte der das wirklich gesagt? Der Moderator machte eine launige Bemerkung über Sturmgeschichten, die ja jeder kann, das Publikum lachte, der Kapitän las, soweit alles gut, Applaus, Seemann B schritt auf die Bühne. In seiner Story geht es um einen jungen Matrosen, der wegen einer Frau von Bord abhaut. Sichere Sache, nichts konnte schiefgehen. Kapitän B aber maulte:

Stefan Krücken: Das Fiasko von Flensburg

„Moin. Also, ich hab ja selber auch was geschrieben.“ Mit diesen Worten kramte er in einer Aktentasche und legte einige Bücher auf den Tisch. Eines hielt er hoch. „Unbedingt zu empfehlen. Orkanfahrt, naja.“ Wieder Raunen im Saal. Es gibt Momente, da fühlt man erst nichts und dann einen Reflex. Wo war eigentlich der Notausgang? Als Kapitän C auf der Bühne erschien (wie ich durch die Hände vor meinem Gesicht schemenhaft erkannte), konnte es eigentlich nicht mehr schlimmer kommen. Doch es kam schlimmer.

Jeder kennt diesen Kapitän unter dem Spitznamen „Kuddel“, wirklich jeder, seine Freunde, die anderen Seeleute, sogar seine eigene Frau ruft ihn „Kuddel.“ Also fragte der Moderator: „Lustiger Kosename. Wieso heißen Sie eigentlich Kuddel?“ Der Kapitän schob die Brauen zusammen, er sah streng aus: „Weiß ich auch nicht. Das ist wohl die künstlerische Freiheit von Herrn Krücken! Mich nennt niemand so.“

Das Raunen im Saal schwoll nun zu etwas an, das sich wie eine Brandung anhörte, gemischt mit plätscherndem Gelächter. So ähnlich muss sich jemand vorkommen, der bei Jauch fulminant an der 50-Euro-Frage scheitert, der beim Elfmeter im Pokalfinale über den Ball stolpert oder auf dem Weg zum Altar in einen Haufen tritt. Interessantes Gefühl. Konnte mir bitte das Schiffsmodell auf den Kopf fallen? Was ging hier vor? Der Moderator – er sei für seine Loyalität gepriesen – merkte an, dass auch er den Namen Kuddel bei einer Begrüßung gehört hatte, was der Kapitän mit einem unwilligen Grunzer quittierte und zu lesen begann. Beifall, Interviews, Signierstunde, die Leute vom NDR waren zufrieden und überhaupt schienen alle ihren Spaß zu haben. Nach dem dritten Bier fand auch ich den Abend lustig, und komisch sowieso.

In der verrauchten Kneipe, in der wir später zusammenstanden, musste ich mit Kapitän A einen Friedensschnaps trinken, mir von Kapitän B diverse Verbesserungsvorschläge anhören und fragte Kapitän Kuddel, was der Quatsch sollte. Er grinste milde. „Junge, weißte was: Das muss das Boot abkönnen.“ Damit schlug er mir auf die Schulter.

Ein Gutes hat die Geschichte: Als wir den Namen für unsere neue Comicfigur suchten, fiel mir der Name sofort ein. Raten Sie mal.

Eine Geschichte aus “Orkanfahrt” von Kapitän Jürgen Schwandt:

Bildquelle: Stefan Krücken
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